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Rauchzeichen der Hoffnung
Premnitz, Januar 2003

„Dominoeffekt“ - vor dem Werkstor der Premnitzer Prefil-GmbH hat das Wort einen düsteren Beiklang. Dominoeffekt - er wird entstehen, er wird gefürchtet. Die Betriebsbesetzer, der Ortspfarrer oder der Bürgermeister der brandenburgischen Kleinstadt - sie sind sicher: Der Tod ihrer Fabrik im Industriegebiet des 8.000-Einwohner-Örtchens würde auch andere Firmen mit ins Grab reißen.

„Wir verschwenden keinen Gedanken daran aufzugeben“, sagt Sabine Kindler, die Betriebsrätin. Seit Anfang Dezember wachten sie und ihre Kollegen Tag und Nacht an der „Tonne“, wie sie den Platz vor dem Werkstor der Viskosefabrik getauft hat.


Hier lodern in alten Ölfässern Holzfeuer, aufgespannte Zeltplanen schützen Menschen und zwei Hand voll Stühle notdürftig vor Regen und Schnee. Angegraute Gewerkschaftsfähnchen flattern im kalten Januarwind. Es gibt Kaffee in Isolierbechern, ein Speisenservice bringt Hackklops mit Kartoffeln und Soße. Die mehr als 100 Viskosespinnmaschinen der Textilchemiefabrik sollen an einen indischen Interessenten verkauft werden. Das will die Belegschaft verhindern. Sabine Kindler organisiert den Protest, sorgt für Brennholznachschub, telefoniert mit Kollegen, motiviert zum Weitermachen. Für die Mittagszeit hätten sich Kohlekumpel aus dem niederrheinischen Moers angemeldet, sagt sie, am Nachmittag wollen Schriftsteller des Literaturkollegium Brandenburg an der Tonne eine Lesung halten.


Ein knappes Dutzend Textilwerker sitzt ums Feuer. Nachts seien sie vier oder fünf, tags bis zu 20, sagt Günter Uhlstein und schiebt Teile einer hölzernen Euro-Palette in die Flammen. Als Anlagenfahrer hielt Uhlstein die Spinnmaschinen in Gang, jetzt als Betriebsbesetzer das Feuer. Anlagenfahrer waren die meisten hier.
Auch Weihnachten und den Jahreswechsel verbrachten die Textilchemiewerker vor der Fabrik, in der kältesten Nacht maß das Thermometer minus 18 Grad. Täglich bis zu acht Stunden harren sie hier aus, in Wechselschichten. Am Montag sind es acht Wochen. Länger hielten nur die Stahlwerker im sächsischen Gröditz durch - im Jahr 2000 -, oder die 700 Kumpel des thüringischen Kalischachtes Bischofferode, für die im Juli 1993 der Hungerstreik das letztes Mittel war.


Der Qualm aus den Tonnen ist ein Rauchzeichen der Hoffnung, die verbliebenen 120 Textilchemiewerker glauben fest an ein Erwerbsleben nach der Betriebsbesetzung. Die Prefil GmbH ist seit Juli 2002 pleite, weil sich eine Finanzbürgschaft des Landes verzögerte und die erforderliche Betriebsgenehmigung für die maroden Werkshallen nicht verlängert worden war. „Das hätte politisch verhindert werden können“, sagt Sabine Kindler.


Am Werkszaun neben dem Besetzercamp bläht der Wind ein Dutzend Transparente auf. „Arbeit für alle, die arbeiten wollen“, fordert die Belegschaft darauf, „Gebt unseren Eltern die Arbeit wieder“ bitten Schüler des Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums. Hinter dem Zaun ragen die Fabrikgebäude empor, die ältsten stehen seit 90 Jahren. Brandschutzprüfer untersagten der Prefil die Weiterproduktion in den maroden Mauern.


In den sechziger Jahren gehörte alles zum volkseigenen Chemiefaserkombinat „Friedrich Engels“. Tausende standen auf den Gehaltslisten der Chemiebetriebe, produzierten im Schichtbetrieb Schwefelsäure und Kunstfasern, ein werkseigenes Kraftwerk sorgte für Strom und Dampf. In einem Teil der Anlagen begann im April 2002 der Bremerhavener Unternehmer Wolfgang Riggers zu produzieren. Hemmnisse wie die unbezahlbar teure Werksfeuerwehr oder die ablaufende Betriebsgenehmigung ließen ihn ein Vierteljahr später kapitulieren. „Er hatte gut angefangen, aber die Zeit hat nicht ausgereicht“, sagt Ilona Warney zum Scheitern ihres Chefs.
So ruht die Hoffnung der 218 ehemaligen Mitarbeiter auf einem letzten potenziellen Investor. Es soll der Betreiber der benachbarten Märkischen Faser AG sein, wird gemunkelt. So das Geschäft zu Stande käme, könnten alle wieder arbeiten, der Ausverkauf nach Indien wäre abgewendet.


In seiner Düsseldorfer Anwaltskanzlei wartet Insolvenzverwalter Horst Piepenburg auf Post. Er habe Märkische-Faser-Geschäftsführer Eberhard Brack schriftlich um ein Angebot gebeten, sagt Piepenburg. Bisher vergeblich. Ist der indischen Maschinenkäufer schneller, müsse er dessen Kaufvertrag unterschreiben. Und das bedeute „das Ende der Viskoseproduktion in Premnitz“, sagt Piepenburg.
„Neue Arbeit hier in der Region - in meinem Alter sieht es schlecht aus“, sagt Günter Uhlstein an der Tonne. Der 49-jährige ist Vater eines 17-jährigen Sohnes. Uhlsteins Kollegin Martina Sandmann will kämpfen: „Auswandern kommt nicht in Frage“. Sie ist, wie die meisten Prefiler, durch Haus, Kinder oder Großfamilie an ihre Stadt gebunden.
Am Mittag stellt ein LKW-Kran zwanzig Zentner Kohlebriketts vor das Besetzercamp. Klaus Mosebach und Norbert Paß aus Moers wollen zeigen, dass sie „solidarisch zu den Leuten hier stehen“. Sie sind Gewerkschaftsfunktionäre der IG Bergbau, Chemie, Energie. In den neunziger Jahren organisierten sie Mahnwachen vor den Zechen am Rhein. Hilfe komme von überall her, sagt Sabine Kindler. Eine Frau wollte 2.000 Euro spenden, eine Premnitzer Rentnerin bringt regelmäßig Kaffee, andere helfen mit Mahlzeiten oder sprechen einfach Mut zu.


Wie Pfarrer Matthias Frohnert, der am ersten Weihnachtsfeiertag einen Gottesdienst an der Tonne hielt. „Materielle Hilfe kann die Kirchgemeinde nicht leisten“, sagt Frohnert in seinem eichenmöblierten Amtszimmer, doch für ihn sei der Viskosehersteller „ein Symbol, das erhalten werden muss“. Wenn das gelingt, will er einen Dankgottesdienst feiern. Doch auch über die Alternative habe er schon nachgedacht, sagt Frohnert.
Die Kalikumpel von Bischofferode hatten 1993 nach sechs Monaten aufgeben müssen, arbeitslos, hoffnungslos, zermahlen von der Kraft des freien Marktes.


Geschichte der Prefil GmbH:
Hervor gegangen aus einer 1915 gegründeten Pulverfabrik, Tagesproduktion 1916: 60 Tonnen
Ab 1919 wird in einem Teil der Anlagen Kunstseide produziert, 1926 übernimmt die IG Farben das Unternehmen. Täglich verlasen acht Tonnen Seidenfaden das Werk.
1938-45 liefert die Fabrik Rüstungsgüter wie Fallschirmseide und Zellwolle.
Nach 1945 beginnt die Produktion von Schwefelsäure.
1960 wird das Werk in VEB Chemiefaserwerk „Friedrich Engels“ umgetauft. Premnitz wird mit etwa 7.000 Mitarbeitern Zentrum der DDR-Chemiefaserproduktion. Für die Vielzahl der Arbeiter werden ganze Wohnviertel, Schulen und Sportanlagen errichtet.
Ab 1990 heißt der reprivatisierte Industriekomplex „Märkische Faser AG“, der Maschinenpark wird erneuert, die Belegschaft schrumpft.
1996 wird die Viskosespinnerei als „Märkischen Viskose AG“ ausgegliedert, nach fünf Jahren folgt wegen Geldmangels der erste Konkurs.
2001 übernimmt die Prefil GmbH das Geschäft und beginnt im April 2002 für drei Monate zu produzieren.

Viskose:
Lösung von Cellulosenatriumxanthogenat in verdünnter Natronlauge. Die zähe, gelbe Flüssigkeit wird durch etwa 30 Spinndüsen in ein Säurebad gepresst. Dort erstarren die nur wenige Mikrometer dünnen Fäden. Anschließend werden sie zu Zellwolle (Spinnfasern) verarbeitet oder zu Kunstseidengarn (Endlosfasern) versponnen. Der Seidenfaden ist dünner als ein Haar.
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Von Tilman Steffen