„Dominoeffekt“
- vor dem Werkstor der Premnitzer Prefil-GmbH hat das
Wort einen düsteren Beiklang. Dominoeffekt - er
wird entstehen, er wird gefürchtet. Die Betriebsbesetzer,
der Ortspfarrer oder der Bürgermeister der brandenburgischen
Kleinstadt - sie sind sicher: Der Tod ihrer Fabrik im
Industriegebiet des 8.000-Einwohner-Örtchens würde
auch andere Firmen mit ins Grab reißen.
„Wir
verschwenden keinen Gedanken daran aufzugeben“,
sagt Sabine Kindler, die Betriebsrätin. Seit Anfang
Dezember wachten sie und ihre Kollegen Tag und Nacht
an der „Tonne“, wie sie den Platz vor dem
Werkstor der Viskosefabrik getauft hat.
Hier lodern in alten Ölfässern Holzfeuer,
aufgespannte Zeltplanen schützen Menschen und zwei
Hand voll Stühle notdürftig vor Regen und
Schnee. Angegraute Gewerkschaftsfähnchen flattern
im kalten Januarwind. Es gibt Kaffee in Isolierbechern,
ein Speisenservice bringt Hackklops mit Kartoffeln und
Soße. Die mehr als 100 Viskosespinnmaschinen der
Textilchemiefabrik sollen an einen indischen Interessenten
verkauft werden. Das will die Belegschaft verhindern.
Sabine Kindler organisiert den Protest, sorgt für
Brennholznachschub, telefoniert mit Kollegen, motiviert
zum Weitermachen. Für die Mittagszeit hätten
sich Kohlekumpel aus dem niederrheinischen Moers angemeldet,
sagt sie, am Nachmittag wollen Schriftsteller des Literaturkollegium
Brandenburg an der Tonne eine Lesung halten.
Ein knappes Dutzend Textilwerker sitzt ums Feuer. Nachts
seien sie vier oder fünf, tags bis zu 20, sagt
Günter Uhlstein und schiebt Teile einer hölzernen
Euro-Palette in die Flammen. Als Anlagenfahrer hielt
Uhlstein die Spinnmaschinen in Gang, jetzt als Betriebsbesetzer
das Feuer. Anlagenfahrer waren die meisten hier.
Auch Weihnachten und den Jahreswechsel verbrachten die
Textilchemiewerker vor der Fabrik, in der kältesten
Nacht maß das Thermometer minus 18 Grad. Täglich
bis zu acht Stunden harren sie hier aus, in Wechselschichten.
Am Montag sind es acht Wochen. Länger hielten nur
die Stahlwerker im sächsischen Gröditz durch
- im Jahr 2000 -, oder die 700 Kumpel des thüringischen
Kalischachtes Bischofferode, für die im Juli 1993
der Hungerstreik das letztes Mittel war.
Der Qualm aus den Tonnen ist ein Rauchzeichen der Hoffnung,
die verbliebenen 120 Textilchemiewerker glauben fest
an ein Erwerbsleben nach der Betriebsbesetzung. Die
Prefil GmbH ist seit Juli 2002 pleite, weil sich eine
Finanzbürgschaft des Landes verzögerte und
die erforderliche Betriebsgenehmigung für die maroden
Werkshallen nicht verlängert worden war. „Das
hätte politisch verhindert werden können“,
sagt Sabine Kindler.
Am Werkszaun neben dem Besetzercamp bläht der Wind
ein Dutzend Transparente auf. „Arbeit für
alle, die arbeiten wollen“, fordert die Belegschaft
darauf, „Gebt unseren Eltern die Arbeit wieder“
bitten Schüler des Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums.
Hinter dem Zaun ragen die Fabrikgebäude empor,
die ältsten stehen seit 90 Jahren. Brandschutzprüfer
untersagten der Prefil die Weiterproduktion in den maroden
Mauern.
In den sechziger Jahren gehörte alles zum volkseigenen
Chemiefaserkombinat „Friedrich Engels“.
Tausende standen auf den Gehaltslisten der Chemiebetriebe,
produzierten im Schichtbetrieb Schwefelsäure und
Kunstfasern, ein werkseigenes Kraftwerk sorgte für
Strom und Dampf. In einem Teil der Anlagen begann im
April 2002 der Bremerhavener Unternehmer Wolfgang Riggers
zu produzieren. Hemmnisse wie die unbezahlbar teure
Werksfeuerwehr oder die ablaufende Betriebsgenehmigung
ließen ihn ein Vierteljahr später kapitulieren.
„Er hatte gut angefangen, aber die Zeit hat nicht
ausgereicht“, sagt Ilona Warney zum Scheitern
ihres Chefs.
So ruht die Hoffnung der 218 ehemaligen Mitarbeiter
auf einem letzten potenziellen Investor. Es soll der
Betreiber der benachbarten Märkischen Faser AG
sein, wird gemunkelt. So das Geschäft zu Stande
käme, könnten alle wieder arbeiten, der Ausverkauf
nach Indien wäre abgewendet.
In seiner Düsseldorfer Anwaltskanzlei wartet Insolvenzverwalter
Horst Piepenburg auf Post. Er habe Märkische-Faser-Geschäftsführer
Eberhard Brack schriftlich um ein Angebot gebeten, sagt
Piepenburg. Bisher vergeblich. Ist der indischen Maschinenkäufer
schneller, müsse er dessen Kaufvertrag unterschreiben.
Und das bedeute „das Ende der Viskoseproduktion
in Premnitz“, sagt Piepenburg.
„Neue Arbeit hier in der Region - in meinem Alter
sieht es schlecht aus“, sagt Günter Uhlstein
an der Tonne. Der 49-jährige ist Vater eines 17-jährigen
Sohnes. Uhlsteins Kollegin Martina Sandmann will kämpfen:
„Auswandern kommt nicht in Frage“. Sie ist,
wie die meisten Prefiler, durch Haus, Kinder oder Großfamilie
an ihre Stadt gebunden.
Am Mittag stellt ein LKW-Kran zwanzig Zentner Kohlebriketts
vor das Besetzercamp. Klaus Mosebach und Norbert Paß
aus Moers wollen zeigen, dass sie „solidarisch
zu den Leuten hier stehen“. Sie sind Gewerkschaftsfunktionäre
der IG Bergbau, Chemie, Energie. In den neunziger Jahren
organisierten sie Mahnwachen vor den Zechen am Rhein.
Hilfe komme von überall her, sagt Sabine Kindler.
Eine Frau wollte 2.000 Euro spenden, eine Premnitzer
Rentnerin bringt regelmäßig Kaffee, andere
helfen mit Mahlzeiten oder sprechen einfach Mut zu.
Wie Pfarrer Matthias Frohnert, der am ersten Weihnachtsfeiertag
einen Gottesdienst an der Tonne hielt. „Materielle
Hilfe kann die Kirchgemeinde nicht leisten“, sagt
Frohnert in seinem eichenmöblierten Amtszimmer,
doch für ihn sei der Viskosehersteller „ein
Symbol, das erhalten werden muss“. Wenn das gelingt,
will er einen Dankgottesdienst feiern. Doch auch über
die Alternative habe er schon nachgedacht, sagt Frohnert.
Die Kalikumpel von Bischofferode hatten 1993 nach sechs
Monaten aufgeben müssen, arbeitslos, hoffnungslos,
zermahlen von der Kraft des freien Marktes.
Geschichte der Prefil GmbH:
Hervor gegangen aus einer 1915 gegründeten Pulverfabrik,
Tagesproduktion 1916: 60 Tonnen
Ab 1919 wird in einem Teil der Anlagen Kunstseide produziert,
1926 übernimmt die IG Farben das Unternehmen. Täglich
verlasen acht Tonnen Seidenfaden das Werk.
1938-45 liefert die Fabrik Rüstungsgüter wie
Fallschirmseide und Zellwolle.
Nach 1945 beginnt die Produktion von Schwefelsäure.
1960 wird das Werk in VEB Chemiefaserwerk „Friedrich
Engels“ umgetauft. Premnitz wird mit etwa 7.000
Mitarbeitern Zentrum der DDR-Chemiefaserproduktion.
Für die Vielzahl der Arbeiter werden ganze Wohnviertel,
Schulen und Sportanlagen errichtet.
Ab 1990 heißt der reprivatisierte Industriekomplex
„Märkische Faser AG“, der Maschinenpark
wird erneuert, die Belegschaft schrumpft.
1996 wird die Viskosespinnerei als „Märkischen
Viskose AG“ ausgegliedert, nach fünf Jahren
folgt wegen Geldmangels der erste Konkurs.
2001 übernimmt die Prefil GmbH das Geschäft
und beginnt im April 2002 für drei Monate zu produzieren.
Viskose:
Lösung von Cellulosenatriumxanthogenat in verdünnter
Natronlauge. Die zähe, gelbe Flüssigkeit wird
durch etwa 30 Spinndüsen in ein Säurebad gepresst.
Dort erstarren die nur wenige Mikrometer dünnen
Fäden. Anschließend werden sie zu Zellwolle
(Spinnfasern) verarbeitet oder zu Kunstseidengarn (Endlosfasern)
versponnen. Der Seidenfaden ist dünner als ein
Haar. ...zurück
Von Tilman Steffen
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